8. Der maide muoter

T&M: Neidhart von "Reuental" (1. Hälfte 13. Jh.)

Handschrift ca. 1460, Berlin

(Tenor-Baßgambe, Dulcimer, Baßblockflöte, Sopranblockflöte; Gesang: Martina Noichl)

Der wahrscheinlich im Salzburgischen oder angrenzenden Bayrischen Geborene dichtete etwa zwischen 1210 und 1240. Am Wiener Hof des letzten Babenbergers, Herzog Friedrich II. von Österreich, fand er 1230/31 seine endgültige Wirkungsstätte.

Neidharts enorme Popularität als "Liedermacher" wird durch die 55 Melodien und ca. 1500 Strophen, die unter seinem Namen überliefert wurden, bewiesen. Aber nicht alles stammte wirklich von ihm. Es war geradezu eine Mode - auch noch mehr als 100 Jahre nach seinem Tod - Lieder unter seinem Namen zu veröffentlichen und ihnen damit ein Qualtitätssiegel zu verleihen. Auch beim vorliegenden Lied meldeten einige Wissenschaftler Zweifel an Neidharts Urheberschaft an.

Kinder ir habt einen winter an der handt

daß die kleinen vogelein

gesanges muoß verdrießen

darumb faltet euer feyertäglich gewandt

legt es schoen in einen schrein

und haißet euchs versließen

und behalt es schoen unz in den mayen

niemant kan die pluomen für gehayen

jârlang trauren alle stolze layen


Wer sich auß der mâßen nach den pluomen senet

sprach ein wolgethane maidt

der hat nicht sinne

wes die man die frauen lang zeit hand gewenet

da ist mir wunder von gesait

das da heißet minne

des will ich mich heuer unterwinden

man sol mich in hôhen freuden finden

dasselb rat ich auch allen stolzen kinden


Dieselbig rede ward der maide muoter laid

sie sprach tochter alle man

soltu vermeiden

was ob dir ein tummer von der minne sait

der nicht wol zuo der minne kan

der will dich verschneiden

wie er deine freund an dir beswære

zuo allen zeiten ist er dir gevære

müeterlein ja muet mich euer mære


Tochter ergêt es dir als es mir ergieng

dô ich was in deiner hait

und ein lutzel thummer

ein vil stolzer ritter kund mein gefieng

der pracht mich in arbait

und in senden kummer

sô zuhant muost mir dâ freud entweichen

alsô ergêt es dir und Amelreichen

muoter auf die mann will ich mich streichen


Der ritter und der knaben der hân ich wol die wal

der will ich mir einen welen

der mir nicht enpfliehe

meine sinn die râtend mir gein Ruobental

man soll mir den schaden zelen

ob ich misseziehe

Nûn far hin gein Ruobental vil schnelle

dâ magstu des hungers wol geswellen

ja, daß tausent teufel auß dir pellen


Solt ich darumb lâßen meinen hôhen muot

daß ir mir von den mannen sagt

sô vil poeser mære

sô wurd ich an keinen freuden nimmer fruot

wolt ich dorumb sein verzagt

wie thumme ich denn wære

davon lâßt ir fürpaß euer schelten

ich will sein an freuden nicht engelten

muoter der euern lêre der volg ich selten

Kinder, ein solcher Winter steht vor der Tür,

daß die kleinen Vöglein

keine Lust auf Gesang haben.

Darum faltet euer Feiertagsgewand zusammen,

legt es ordentlich in den Schrank

und verschließt diesen gut

und hebt es gut auf bis zum nächsten Mai.

Niemand kann die Blumen länger pflegen,

zu dieser Jahreszeit trauren alle hochgemuten Laien.


„Wer sich übertrieben nach den Blumen sehnt",

sprach ein hübsches Mädchen,

der hat seine Sinne nicht beisammen.

Was Männer den Frauen seit langer Zeit angewöhnt haben,

dieses Wunder wurde mir erzählt,

das nennt man die Liebe.

Dieser will ich mich heuer unterziehen,

man soll mich in 'hohen' Freuden vorfinden.

Das selbe rate ich allen hochgemuten Mädchen."


Dieses Gerede gefiel des Mädchens Mutter nicht

Sie sprach: „ Tochter, alle Männer

sollst du dir fern halten!

Was, wenn dir ein Dummkopf die Liebe erklärt,

der selbst keine Ahnung von der Liebe hat?

Der will dich reinlegen!

Genauso wird er deinen Verwandten Sorgen bringen,

weil er ständig dir hinterlistig nachstellt."

Mütterlein, mich ärgern deine Schauermärchen!"


„Tochter, euch wird es so wie mir ergehen,

als ich in deinem Alter war

und um einiges noch dümmer.

Ein prächtiger Ritter hat mich 'gefesselt',

der brachte mir Not

und Liebeskummer.

So mußte ich meine Freude verlieren,

gesauso geht es dir und Amelreich."

„Mutter, nach Männer möchte ich mich umsehen.


Ritter und Junker hab ich zur Auswahl.

daraus wähle ich mir einen,

der mir nicht entflieht.

Meine Sinne weisen mich ins Reuental.

Man soll mir nur den Schaden beweisen,

ob ich dabei schlecht entscheide."

„Dann verschwinde sofort ins Reuental,

da wirst du so an Hunger verschmachten,

ja, daß tausend Teufel aus dir bellen."


Sollte ich deshalb auf meinen Spaß verzichten,

weil ihr mir von den Männern

so schlimme Schauermärchen erzählt,

so würde ich niemals mehr Freude erleben.

Erschreckte mich schon das,

wäre ich ziemlich dumm.

Jetzt laßt doch euer Schimpfen sein!

Ich werde mir die Lebensfreude nicht nehmen,

Mutter, eurer Lehre folge ich niemals."

Neidharts Vorliebe für Drastisches ist in diesem Lied ansatzweise zu bemerken: In dem Zwiegespräch zwischen Mutter und Tochter entbrennt ein Streit darüber, ob die Tochter schon reif für die Liebe sei. Die Mutter rät von der Liebe ganz ab, denn sie hat die Erfahrung gemacht, daß Ritter Halunken sind, die nur "das Eine" wollen. Doch die Tochter antwortet frech, sie werde sich von der Mutter nicht den Spaß an der Liebe nehmen lassen und Neidharts Geliebte werden. "Tausend Teufel bellen aus dir, verschwinde ins Reuental zu deinem Neidhart", flucht darauf die Mutter.

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