6. Zart liepster hort

T&M: Dießenhofener Liederblatt (recto)

Ende des 14. Jh., Zürich Privatbesitz

(Gotische Harfe, Tenorgemshorn, Dulcimer, Tenorblockflöte; Gesang: Andreas Gutenthaler)

Anfang unseres Jahrhunderts machte man bei Renovierungsarbeiten auf Schloß Dießenhofen (heute in der Schweiz, aber Ende des 14. Jahrhunderts habsburgisches Einflußgebiet, wo Hugo von Montfort Landvogt war!) eine Entdeckung: Unter dem Bretterboden lag ein mittelalterliches Blatt mit zwei Liedern (Reproduktion: siehe Titelbild der CD). Einem Spielmann rutschte es wahrscheinlich während einer Aufführung zwischen die Bretter.

Auf Bitte des Germanistischen Institutes Freiburg/Schweiz erfolgte 1991 durch Dulamans Vröudenton die erste Wiederaufführung der beiden Lieder nach 600 Jahren.

Zart liepster hort vorgis nùt min

durch als daz ich volbringun mag,

lib hercz muot/ ist alles din

gen dir ich trùw in herczen trag,

hab steten muot min einig ein

und/ las mich trùw geniessen

wen ich uf erd nùt lieburs mein

las mir din trost erschiessen etc/ etc

us al der welt besunderbar

kein menschs mich mag gifroewen bas

wen du mir/ lieb bist liebes zwar

bist du mir on argen has etc etc etc//


Noch fùrbas ich mich halten wil

gen der ich mich ze dienst erbot

und wil ir dienen/ on endes zil

und ‹j›emur sin bis an min tod

sid mir nùt lieburs wer‹den› sol

in h‹erz›un und/ in sinen

du mac‹h›t gebieten heissen wo‹l›

‹d›es sol du werden inen ‹etc etc›

‹us› a‹l der w›elt ‹etc›//


Se hin min hercz mit ganczer trùw

trut froewly zart des ‹wer› ich dich/

daz solt du haben al zit nùw

wie du wilt als hast du mich

du tuo so wol zartliches/ wib

die ich ze trast han userwelt

din gnad och stet an mir belib

wen mir kan/ ander bas gifelt etc etc

us al der welt besunderbar

kein menschs mich mag etc//

Allerliebster Schatz vergiß mich nicht

wegen alledem was ich darbringen möchte,

Liebe, Herz und Gesinnung gehören dir.

Von Herzen bin ich dir treu,

habe Standfestigkeit, meine einzig Eine,

und deshalb laß mich deine Treue genießen.

Vermute ich auf Erden nichts Lieberes für mich,

so laß mir deine Zuneigung angedeihen.

Auf der ganzen wunderbaren Welt

kann mich kein Mensch mehr erfreuen,

als wenn du lieb zu mir bist, wahrlich lieb

bist du mir, wenn du mich nicht ganz ablehnst.


Auch weiterhin möchte ich mich bereithalten

für die, der ich meinen Dienst angeboten habe.

Und ich werde ihr dienen ohne Grenzen

und immer so sein bis zu meinem Tod,

weil mir nichts lieber sein wird

im Herzen und in Gedanken.

Du kannst wohl über mich gebieten,

das sollst du wissen.

Auf der ganzen wunderbaren Welt ...


Sieh an mein Herz voller Zuneigung,

geliebte, zärtliche Herrin, das schenke ich dir.

Das sollst du immer von Neuem bekommen:

So wie du mich willst, so wirst du mich haben.

Du, sei wohlgesonnen, liebreizende Frau,

die ich als Geliebte auserwählt habe,

auch deine Zuneigung bleibe mir immer sicher,

solange mir keine andere besser gefällt.

Auf der ganzen wunderbaren Welt ...

Der Text dieses Liedes ist nach dem typischen Muster der konventionellen, mittelalterlichen Minnelyrik konzipiert. Der Mann unterwirft sich gänzlich seiner Herrin. Nur sie allein kann ihn von seinen Sehnsüchten erlösen und glücklich machen.

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